Erntedank - Festgottesdienst zum Gemeindegeburtstag

Vom Sonntag, 8. Oktober. Hier könnt ihr die Predigt von EKD-Auslandsbischöfin Petra Bosse-Huber hören oder lesen.

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

Liebe Festgemeinde,

was für einen wunderbaren Sonntag im Kirchenjahr haben Sie gewählt, um den 400. Geburtstag der deutschsprachigen Christinengemeinde zu feiern: Das Erntedankfest! An Erntedank loben wir Gott beim dankbaren Blick auf die Ernte. Wir danken Gott für die Lebensmittel und die elementaren Ressourcen, von denen das Überleben aller Menschen auf dieser Erde abhängen. Heute preisen wir Gott aber auch für die reiche Ernte, die wir beim Blick zurück auf 400 Jahre spannender Gemeindegeschichte hier in Göteborg entdecken können. Was ist das für ein wunderbarer Anlass, Gott zu loben, dass eine der ältesten deutschsprachigen Gemeinden weltweit von ihm durch die Zeiten geleitet wurde und ihre Heimat schließlich mitten in der Schwedischen Kirche und mitten in der Ökumene gefunden hat.

((Lukas 19, 37 – 40: „Und als er schon nahe am Abhang des Ölbergs war, fing die ganze Menge der Jünger an, mit Freuden Gott zu loben mit lauter Stimme über alle Taten, die sie gesehen hatten, und sprachen: Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe! Und einige von den Pharisäern in der Menge sprachen zu ihm: Meister, weise doch deine Jünger zurecht! Er antwortete und sprach: ich sage euch: Wenn diese schweigen, so werden die Steine schreien.“))

Die Geschichte aus dem Leben Jesu, die wir eben als Schriftlesung aus dem Lukasevangelium gehört haben, erzählt von lobenden Jüngerinnen und Jüngern und einer jubelnden Menge, die Jesus auf dem Weg nach Jerusalem begleitet haben. Wir hören überrascht, dass Jesus selbst den Steinen dabei kommunikative Qualitäten zuschreibt. Steine, so sagt Jesus, geben Laut, sie sprechen, ja, sie können schreien. Deshalb greife ich dieses ungewöhnliche Stichwort Jesu über die Steine auf und frage Sie, liebe Gemeinde: Was verbindet Sie persönlich mit den Steinen dieser Kirche? Erinnert Sie dieser Kirchraum an besondere Zeiten? An Glück und Leid? An Höhepunkte und Tiefpunkte Ihres persönlichen Lebens? Blitzen da Erinnerungen auf, wie aufgeregt und aufgewühlt Sie bei Ihrer Trauung durch den Mittelgang auf den Altar zu geschritten sind? Oder wie tief berührt und dankbar Sie Ihr Kind hier zur Taufe getragen haben? Oder wie Sie in einer dunklen Zeit Ihres Lebens trostlos und zusammengesunken in einer der rotbraunen Bänke gesessen haben? Völlig am Ende und ausgelaugt, leer und ohne einen einzigen Funken Lebensmut?! Vielleicht blitzt aber auch eine Erinnerung auf, wie Sie hier im Kirchraum unerwartete spirituelle Überlebenshilfen für sich selbst entdeckt haben: in Musik und Worten, in der Stille und in Chorälen, im Gebet und beim Abendmahl. Geistliches tägliches Brot für dürre und verzweifelte Zeiten in Ihrem Leben, in denen Sie sonst seelisch verdurstet oder verhungert wären.    

Liebe Gemeinde, würden wir die alten Steine hier in der Christinenkirche nach ihren eigenen Stories fragen, kämen wir wohl aus dem Staunen nicht mehr heraus: Vermutlich würden die Steine bei manchen Geschichten voller Ehrfurcht anfangen zu flüstern: In Erinnerung an himmlische Konzerte und an bewegende Gottesdienste in den vergangenen Jahrhunderten, nachdem diese Steinkirche die zugige, enge Holzkirche hier im Hafen abgelöst hatte. Die Steine würden vielleicht berichten vom Februar 1879, als das erste vieler Konzerte hier in der Kirche tatsächlich von zwei Frauen gegeben wurde: Elfrida Andrée und Alice Brattberg konzertierten hier. Elfrida war die erste fest angestellte weibliche Domorganistin in ganz Europa und damit ein großes Vorbild für viele Musikerinnen ihrer Zeit. Was für ein mutiger zukunftsweisender Schritt der Christinengemeinde, sie als Domorganistin einzustellen! Vielleicht würden die Steine von anderen ehrenamtlich und beruflich Mitarbeitenden erzählen, wie von Pfarrer Hermann Kiesow, der sich trotz aller Proteste aus Berlin die ganze NS-Zeit hindurch geweigert hat, in der Deutschen Christinenkirche auch nur ein einziges Gebet für Adolf Hitler zu sprechen. Oder von den engagierten Frauen dieser Gemeinde, die an so vielen Stellen aktiv waren. Vielleicht würden die Steine auch lautstark oder leise die Choräle vergangener Jahrhunderte mitsummen und brummen. Aber die Steine würden wohl auch bei einigen Geschichten qualvoll schreien, wie Jesus das von den Steinen vor den Toren Jerusalems erzählt hat. Wörtlich sagte Jesus: „Wenn diese (Leute) schweigen werden, so werden die Steine schreien.“. Schmerzlich schreien würden die Christinensteine wohl bei der Erinnerung an die beiden Stadtbrände von 1669 und 1746, die auch die Christinenkirche in Schutt und Asche gelegt haben. Seufzend erinnerten sie aber auch den Bombenanschlag im Jahr 1978 auf das benachbarte Rathaus, bei dem sieben der schönen Glasfenster großenteils zerstört wurden. Schmerzlich schreien würden die Steine, wenn sie von den Kriegen und Katastrophen, von Hunger und Krankheit, von Cholera, Spanischer Grippe und Corona hier in Göteborg erzählten. Denn auch für die Christinenkirche gilt: Himmlische Worte und der Gesang der Engel sind auf Erden nicht ohne das Schreien der Steine zu haben.

Unsere kleine Geschichte aus dem Lukasevangelium schildert die ganze Bandbreite, wie Menschen auf die persönliche Begegnung mit Jesus bis heute reagieren: Da gibt es Menschen, die sich begeistert und enthusiastisch Jesus zuwenden. Sie loben Gott und jubeln, weil sich ihr Leben durch den Kontakt mit Jesus von Grund auf zum Guten verändert hat. Sie haben Trost und Ermutigung erlebt. Sie haben überraschende Einsichten in ihren Glauben und in das Leben gewonnen. Sie haben völlig unerwartete Erfahrungen mit Gott und der Welt gemacht. Sie nennen es aus tiefstem Herzen ein Wunder, dass sie Jesus begegnet sind. Diese Jesusleute können sich ein Leben ohne ihn ebenso wenig vorstellen wie die Jüngerinnen und Jünger damals, die sich nach dem mühsamen Aufstieg über den Ölberg nun mit Jesus der Heiligen Stadt nähern. 

Es gibt aber auch die große Gruppe der Kritikerinnen und Hochskeptischen, die sich von diesem Mann aus Nazareth rein gar nichts versprechen. Sie wittern angesichts dieses eigenartigen Gurus manipulativen Machtmissbrauch, ausufernden Personenkult oder religiöse Amtsanmaßung und reagieren entsprechend aggressiv. So wie die Pharisäer, die Jesus auffordern, doch bitte die peinlich lauten Openairgesänge seiner Fans zu unterbinden. Diese spontanen Sympathiebekundungen- es sind aus vollem Herzen gesungene Worte des 118. Psalms: „Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe!“ - haben vielleicht tatsächlich eher dem schiefen Gegröle in einem heutigen Fußballstadion geähnelt als den schönen festlichen Gesängen in diesem Gottesdienst. Aber es ist dennoch ein begeisterter, ein von Herzen kommender Jubel. 

Es gibt auch noch eine dritte Gruppe von Menschen, die da an der Stadtgrenze von Jerusalem Jesus begegnen: Es sind die vielen, vielen Kinder, Frauen und Männer, die sich endlich in ihrer Not gesehen und in ihrem Elend wahrgenommen fühlen. Die bitterarmen Landarbeiter und Sklavinnen, die Jesus ehrerbietig ihre Lumpen zu Füßen legen. Sie erkennen in Jesus einen der Ihren: Einen armen Galiläer, einen einfachen Handwerkersohn und mittellosen Wanderrabbi. Einen Mann, der die elenden Lebensbedingungen der Landbevölkerung aus eigener bitterer Erfahrung kennt. Jesus weiß, wie schutzlos und hilflos sie Hunger und Ausbeutung, Geburten und Krankheiten, Krieg und Gewalt ausgeliefert sind. Nicht anders als unzählige ausgebeutete junge und alte Menschen, Vertriebene und Flüchtende heute. Um sie kümmert sich Jesus, ihnen geht er nach. Auf sie hat er ein Auge. Genau wie sie selbst hat sich auch Jesus mit seinen Leuten zu Fuß bis nach Jerusalem durchgeschlagen. 

Die kleine biblische Szene hält mit wenigen eindrücklichen Worten fest, dass dieser Messias ganz anders auftritt als alle bekannten Herrschenden oder Machthaber. Der Evangelist Lukas- dort ist er hier in der Kirche abgebildet- teilt uns in prägnanter Kürze mit, was man von Jesus erwarten kann und was nicht: Jesus wählt für seine Ankunft in der heiligen Stadt das billigste Volksgefährt seiner Zeit: Kein Streitross, sondern einen Esel. Was für ein Antisymbol zu den herrschenden römischen Machthabern! Der Gegenentwurf zum Statthalter Pilatus oder zum Kaiser Tiberius. Niemand auf einem hohen Ross von tödlichen Waffen umgeben, der von oben herab auf die Menschen herunter schaut, sondern ein Eselreiter, ein Mann aus dem Volk, einer mit echter Bodenhaftung. Kein roter Teppich wird vor ihm ausgerollt, sondern schäbige Kleider und Lumpen breitet die jubelnde Menge in der staubigen Hitze vor den Füßen Jesu aus. Diese Leute geben wortwörtlich ihr letztes Hemd für Jesus her. Vermutlich verstanden einige der schriftkundigen frommen Juden diese ungewöhnliche Szene vor ihren Augen sofort, denn hier erfüllt sich eine alte Verheißung des Propheten Sacharja (Sach 9,9): Auf einem Esel zieht nur einer in die Heilige Stadt Jerusalem ein, nämlich der sehnsüchtig erwartete Messias selbst. Oder in den originalen Worten des Propheten: „Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einen Esel…“

Liebe Festgemeinde, wenn ich auf die lange Geschichte der Christinengemeinde schaue, die Anna Rikner so großartig und sorgfältig in der Festchronik beschreibt, dann entdecke ich, wie die Göteborgerinnen und Göteborger in Krisen und in friedlichen Zeiten versucht haben, an der Seite Jesu zu bleiben. Sie wollten ihm nahe sein, nicht anders als die jubelnden Menschen vor den Stadttoren von Jerusalem. Diese Gemeinde ist nur zwei Jahre jünger als die Stadt Göteborg, daran erinnert das Glockenspiel jeden Tag, wenn es Punkt 16.21 Uhr mit seinen 42 Glocken zu schwingen und zu klingen beginnt. Von Anfang an, seit 1623, war es den aus den Niederlanden, Deutschland, Schottland und anderen Ländern Zugezogenen wichtig, einen eigenen Ort zu haben, um Sonntag für Sonntag Gottesdienst zu feiern und sich ihres protestantischen Glaubens zu vergewissern. Man könnte auch sagen: Diese Menschen wollten auch fern ihrer ursprünglichen Heimat Jesus und seiner Botschaft so nahe sein wie nur irgend möglich. Große Anstrengungen haben die Gemeindeglieder dafür bis heute in Kauf genommen. Gleichzeitig war ihnen aber auch klar, dass eine Gemeinschaft im Namen Jesu Christi niemals ein Selbstzweck sein kann. Eine christliche Gemeinschaft gewinnt erst dann lebendige Ausstrahlungskraft, wenn sie sich in den Dienst der Menschen innerhalb und außerhalb der Gemeinde stellt. Viele Geschichten gäbe es zu erzählen vom Engagement der Ehrenamtlichen und der beruflich Mitarbeitenden. Vom Engagement nach Kriegsende im Lager Backamo, das die besondere Kirchenausstellung zum Thema hatte, bis hin zur aktuellen diakonischen Zusammenarbeit mit der Domgemeinde im Verein „Freunde der Diakonie“, die im Frühjahr dieses Jahres gestartet ist. Das sind nur zwei Beispiele der vielen Aktionen und Projekte, die hier in der Christinengemeinde entstanden sind. 

Liebe Gemeinde, vielen Menschen, auch unter Ihnen, gebührt großer Dank für all Ihr Mühen und Mitanpacken, für Ihr Mitdenken und Mittragen in dieser Gemeinde! Sie haben diese lebendige Gemeindearbeit erst möglich gemacht! Vielen Dank dafür! Die Christinengemeinde hat die gleiche Spannung zwischen einer leidenschaftlichen Hoffnung auf Gottes Reich und der Herausforderung durch eine allzu oft gespaltene und brutale Welt auszuhalten wie die Jüngerschar damals, die sich völlig ahnungslos mit Jesus auf den Weg nach Golgatha begibt, wo ihr Meister durch die römischen Herrscher einen brutalen Tod erleiden wird. Diese manchmal schier unerträgliche Spannung erleben wir in diesen Tagen und sie geht uns unter die Haut, wenn wir die Bilder aus dem Heiligen Land, aus Israel/Palästina, aus der Ukraine, aus Armenien oder aus dem Kongo sehen. Gewalt und Friedlosigkeit fordern uns Christinnen und Christen heraus, sich nicht nur mit den anderen zu freuen, sondern auch mit ihnen zu weinen und zwischen Tränen und Jubel zu versuchen, an Jesu Seite zu bleiben. 

Liebe Gemeinde, Jesu Weg endete nicht am Kreuz auf Golgatha, sondern mit einem Neuanfang und mit neuem Leben, das vom Osterlicht seit Jahrhunderten überstrahlt wird. In einer Zeit, in der sich viele Menschen aus guten Gründen vor Krisen, Kriegen oder gar einem Weltuntergang fürchten betritt man, wenn man in diese Christinenkirche hineingeht einen schönen und starken Hoffnungsraum, der in Gemälden, Kirchenfenstern und Ausstattung, in Musik und Gottesdiensten, in Lob und Gesang von der tiefen Hoffnung erzählt, dass Gott uns weder im Leben noch im Sterben preisgibt. So wenig wie Gott Jesus an den Tod preisgegeben hat, so wenig gibt er auch nur einen einzigen seiner Menschen, einen einzigen von uns preis. Von dieser Hoffnung fühlten sich nicht nur die ersten Siedlerinnen und Siedler vor 400 Jahren in Göteborg getragen. Die trotzig verschwenderische Hoffnung, im Leben und im Sterben bei Gott geborgen zu sein, macht uns Christinnen und Christen auch heute stark und verleiht Courage und Mut, Trost und Zuversicht, wo wir mit der eigenen Weisheit längst am Ende sind. Wie gut ist es, aus dieser reichen Kraftquelle schöpfen zu können, für das eigene, manchmal gar nicht so einfache Leben und für die Zukunft dieser zerbrechlichen Erde! 

Liebe Gemeinde, reihen wir uns deshalb dankbar ein in die Wolke der Zeuginnen und Zeugen früherer Generationen in der Christinenkirche und mit vielen gläubigen Menschen weltweit, indem wir die alten Worte des Glaubensbekenntnisses gemeinsam sprechen und uns so über Zeit und Raum miteinander verbinden:

„Ich glaube an Gott, den Vater…“

 

 

Bischöfin Petra Bosse-Huber, Hannover