Helfer in der Not – Der humanitäre Einsatz der schwedischen Victoriagemeinde in Berlin während der Nazidiktatur

Föredrag av Sven Ekdahl den 8 november 2012 i samband med högtidlighållandet av Raoul Wallenbergs 100-årsminne

Sven Ekdahl

Vortrag gehalten 2012-11-08 im Rahmen der Raoul Wallenberg-Ausstellung in Berlin

Heute vor genau 70 Jahren, am 8. November 1942, wurde Erik Perwe als neuer Pfarrer der schwedischen Victoriagemeinde in Berlin von Erzbischof Erling Eidem aus Uppsala feierlich installiert. Ich erwähne dieses Datum als symbolisches und positives Gegengewicht zu der Pogromnacht am 9. November vier Jahre zuvor, denn Perwe sollte während seiner kurzen, nur zwei Jahre dauernden Dienstzeit ganz Außergewöhnliches an humanitären Einsätzen für sog. „Nicht-Arier“ und andere Verfolgte während der Nazidiktatur leisten. Ende November 1944 kam er bei einem Flugzeugabsturz unter nicht völlig geklärten Umständen ums Leben.
Perwe war der Mittlere von den drei schwedischen Pfarrern, die sich als Hirten der Auslandsschweden in Berlin und zugleich als Legationspfarrer im sog. „Dritten Reich“ um die Belange ihrer Landsleute kümmerten. Sein Vorgänger war der berühmte Birger Forell (1929-1942), sein Nachfolger Erik Myrgren (1944-1945), der später vom Staat Israel die Auszeichnung „Righteous Among the Nations“ verliehen bekam. Alle haben sie sich in schwerer Zeit für die Verfolgten und Opfer des Nationalsozialismus eingesetzt und dabei Großes geleistet.
Lassen Sie mich aber etwas zurückgreifen, bevor wir in dieses Thema einsteigen. Die schwedische Kirchengemeinde in Berlin wurde 1903 gegründet und erhielt ihren Namen von der damaligen Kronprinzessin Victoria, einer Kusine Kaiser Wilhelms II. Näheres hierüber kann man im reich bebilderten Jubiläumsbuch der Gemeinde erfahren, das 2003 in schwedischer Sprache erschien. Die ersten Pfarrer waren Gunnar Helander und Fredrik Sebardt. Nachdem die Gemeinde fast zwei Jahrzehnte lang ihre Gottesdienste in deutschen Kirchen gehalten hatte, gelang es ihr 1922, ein Privathaus mit einem großen Grundstück in der Landhausstraße in Wilmersdorf zu erwerben und von dem bekannten schwedischen Architekten Alfred Grenander als Kirche und zugleich als Wohnsitz des Pfarrers gestalten zu lassen. Es ist immer noch eine Oase in der Großstadt. Die Villa aber wurde am 1. Mai 1945 von russischen Soldaten niedergebrannt und von dem ursprünglichen Grundstück ist heute nur noch die Hälfte vorhanden. Der von Grenander errichtete freistehende Glockenturm mit einer von Königin Victoria geschenkten Glocke ist erhalten geblieben. Heute gibt es moderne Gebäude mit Gemeindesaal, Pfarrhaus und Schule. Davon kann sich jeder überzeugen, der den traditionellen Weihnachtsbasar der Victoriagemeinde am 1. Advent besucht.

Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und die sog. „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 leitete die nicht 1000-jährige, wohl aber 12-jährige Herrschaft des „Dritten Reiches“ ein. Pfarrer Birger Forell stand schon von Anfang an auf der Seite der Verfolgten und unterhielt intensive Beziehungen mit der Ende Mai 1934 in Barmen konstituierten „Bekennenden Kirche“, die im „Pfarrernotbund“ vom September 1933 wurzelte und sich u.a. gegen den sog. „Arierparagraphen“ wandte. Dieser war von den regimetreuen sog. „Deutschen Christen“, die sich auch auf Martin Luther beriefen, eingeführt worden. Forell plante und organisierte ein Treffen des schwedischen Erzbischofs mit Adolf Hitler am 2. Mai 1934, um die Einstellung des Reichskanzlers in der Kirchenfrage möglicherweise beeinflussen zu können. Das Ganze war jedoch kontraproduktiv und dürfte dazu beigetragen haben, dass die Gestapo im Herbst desselben Jahres begann, das Haus in der Landhausstraße von einer angemieteten Wohnung im zweiten Stock eines gegenüberliegenden Gebäudes aus zu beobachten. Zwei regimekritische Polizisten des im selben Haus befindlichen Polizeireviers 155 – Oberwachtmeister Hoffmann und Wachtmeister Friedrich Mattick – warnten jedoch die Pfarrer vor bevorstehenden Überwachungen und werden deshalb von der heutigen Berliner Polizei in Ehren gehalten. Eine bronzene Erinnerungstafel wurde 2003 an der Außenwand des Kirchengebäudes angebracht.
Die Einführung der Nürnberger Gesetze im September 1935 zeigte deutlich, wie es weitergehen würde. Ab 1938 wurde in Reisepässen von Juden ein „J“ gestempelt, ab September 1941 mussten auch Juden im Deutschen Reich den gelben Judenstern tragen. Es gab eine Fülle von irrsinnigen Verordnungen, die nur zum Ziel hatten, das Leben der jüdischen Mitbewohner zur Hölle zu machen. In der Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942 wurden dann die Weichen für ihre totale Ausrottung, die sog. „Endlösung der Judenfrage“, gestellt. Man schätzt, dass sich bei Kriegsausbruch 1939 noch etwa 76.000 der ursprünglich rund 160.000 Juden in Berlin befanden. Von ihnen gab es im Mai 1945 lediglich 4.700, die mit sog. „Ariern“ verheiratet waren, und weitere 1.400, die im Untergrund als sog. „U-Boote“ überlebt hatten.
Die Anzahl von Hilfesuchenden nahm nach der „Machtübernahme“ stetig zu. Da die Victoriagemeinde nicht offiziell gegen die Politik des Gastlandes auftreten konnte – sie befand sich in dieser Hinsicht in einer ähnlich schwierigen Lage wie die schwedische Legation in der Tiergartenstraße 36 – war die Hilfsarbeit zum großen Teil nur im Verborgenen und in der privaten Regie der Pfarrer möglich. Hinzu kam, dass die Gemeindemitglieder politisch keineswegs einig waren. Grob geschätzt war jeweils 1/3 von ihnen für oder gegen den Nationalsozialismus bzw. in dieser Frage indifferent. Bemerkenswert ist, dass es den schwedischen Nazisympathisanten trotz hartnäckiger Versuche nie gelang, einen Platz im Kirchenrat zu erlangen. Es kam aber vor, dass unbekannte Personen unter den Kirchenbesuchern den Inhalt der Predigten mitstenographierten.  Die Telefonverbindungen wurden überwacht. Für Forell und seine Nachfolger konnte die Hilfsarbeit deshalb nur unter größter Geheimhaltung erfolgen. Lediglich eine Handvoll verschwiegener Mitarbeiter war eingeweiht, es gab keinerlei schriftliche Aufzeichnungen, auch keine Gästebücher. Im Falle einer Verhaftung durch die Gestapo sollte niemand das aufgebaute Netzwerk preisgeben können.
Diese damals notwendigen Schutzmaßnahmen führten dazu, dass auch heute niemand die häufig gestellte Frage beantworten kann, wie viele Personen durch die schwedische Victoriagemeinde und namentlich durch den Einsatz ihrer Pfarrer gerettet worden sind. Es gibt einige mündliche Berichte aus der Nachkriegszeit von Beteiligten oder Überlebenden über Einzelaktionen, aber keine zeitgenössischen schriftlichen Quellen. Der wohl größte „Retter“ unter den drei Pfarrern, Erik Perwe, hat viele Geheimnisse über sein umfassendes Netzwerk beim Flugzeugabsturz am 29. November 1944 mit ins Grab genommen. Fest steht auf jeden Fall, dass die Anzahl der Unterstützten und Geretteten mehrere Hundert betragen hat.

Ein Beispiel für eine gelungene Einzelaktion mag hier genannt werden, auch weil in dem Zusammenhang der Name Raoul Wallenbergs erscheint. Zwei Tage nach der Pogromnacht 1938 wurde der jüdische AEG-Ingenieur Erich Philippi von der Gestapo verhaftet und in das Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht. Seine schwedische Frau war Mitglied der Victoriagemeinde, weshalb Pfarrer Birger Forell sofort von dem Vorfall Kenntnis erhielt. Er entschloss sich zum sofortigen Handeln, begab sich zum Hauptquartier der Gestapo in die Prinz-Albrecht-Straße, stürmte mit hochgehaltener Diplomatenlegitimation an den verdutzten Wachtposten am Eingang vorbei und suchte einen hochrangigen Gestapochef auf. Als die Sekretärin ihn nicht hereinlassen wollte, stellte er seinen Fuß zwischen die Tür und drängte sich an ihr vorbei. Drinnen ließ er sich auf einem Stuhl nieder. Minutenlang herrschte eisiges Schweigen, bis Forell sein Anliegen vorbringen konnte. Er drohte mit der schwedischen Legation und der schwedischen Presse, falls Philippi nicht aus Sachsenhausen entlassen würde. Es war ein kaltblütiger Bluff, denn er hatte keine Rücksprache mit der schwedischen Vertretung in Berlin gehabt. Schließlich versprach der genervte Gestapochef, die Freilassung schriftlich anzuordnen, aber Forell gab sich damit nicht zufrieden. Er forderte einen sofortigen Befehl per Telefon an die Lagerführung in Sachsenhausen, der dann auch in seiner Anwesenheit erfolgte. So kam Philippi dank des mutigen Pfarrers frei.
Philippi war mit Raoul Wallenberg befreundet, der dadurch mit ins Bild kommt. In einem Interview mit dem schwedischen Verfasser Bertil Neuman hat Philippis Tochter Ingeborg vor einigen Jahren die erfolgreiche Rettungsaktion Forells bestätigt. Ich zitiere: „Sobald Raoul Wallenberg, ein junger Freund meines Vaters, hörte, dass mein Vater freigelassen worden war, reiste er nach Berlin, um meinen Vater zu treffen und ihm zu helfen, falls es erforderlich sein sollte. Einige Monate später, als mein Vater nach Stockholm gezogen war, half ihm Raoul Wallenberg, eine Firma zu gründen, was meinem Vater damals ohne Hilfe unmöglich gewesen wäre.“
Nach dem Kriegsausbruch wäre eine solch dreiste Rettungsaktion sicherlich nicht mehr möglich gewesen. Es gab stattdessen andere Wege. So gelang es Forell manchmal, durch gute Beziehungen zu Reichsinnenminister Wilhelm Frick Ausreisegenehmigungen für seine Schützlinge zu erwirken. Es war oft schwieriger, Einreisegenehmigungen nach Schweden zu erhalten! Auf dem Boden des Hauses in der Landhausstraße ließ er zwei kleine Zimmer einrichten, in die Verfolgte für einige Zeit aufgenommen werden konnten, bis eine andere Bleibe für sie gefunden worden war. Auch der Keller stand für solche Zwecke zur Verfügung. In der Wand auf dem Boden wurde ein Geheimfach eingebaut, in dem Protokolle der Bekennenden Kirche und andere geheime Unterlagen versteckt wurden. Eingeweihte Personen kamen zu den Treffen durch einen Garteneingang von der Kaiserallee – heute Bundesallee – und gingen durch den Kohlenkeller um nicht von den Gestapoleuten auf der Vorderseite entdeckt zu werden. Forell konnte seine ausgehende Korrespondenz als Diplomatenpost verschicken, die Antwortschreiben erfolgten jedoch manchmal aus Unwissenheit als reguläre Postsendungen und konnten dann von der Gestapo gelesen werden. Zu dem Netzwerk gehörten viele in- und ausländische Theologen, u.a. der englische Bischof Bell of Chichester. An bekannteren Mitgliedern der Bekennenden Kirche, zu denen Kontakte bestanden, mögen Martin Niemöller, Otto Dibelius, Heinrich Grüber und Dietrich Bonhoeffer genannt werden.
Nachdem ihm der Boden unter den Füßen Anfang der 1940er Jahre allzu heiß geworden war – er war nun „persona non grata“ -  suchte und erhielt Forell eine Pfarrstelle in Schweden. Nachfolger wurde im Herbst 1942 der bereits erwähnte Erik Perwe, dessen Enkel Johan Perwe in einem vor wenigen Jahren erschienenen Buch „Bombprästen“ (Der Bombenpriester) die Tätigkeit des Großvaters geschildert hat.

Die Besorgung von falschen deutschen Identitätskarten – sog. „Kennkarten“ – war äußerst wichtig, um Juden vor einer Verhaftung zu schützen. Durch Änderungen in den Kirchenbüchern konnte die Identität verstorbener oder verschollener Personen übernommen werden und passende Taufatteste wurden ausgestellt. Nachdem die Melderegister im Verlauf der Bombenangriffe der Alliierten zunehmend zerstört, beschädigt oder ausgelagert worden waren, gab es immer größere Möglichkeiten, sich der Kontrolle der Gestapo zu entziehen. Wichtig waren die Auskünfte über bevorstehende Aktionen gegen Juden, die bestochene Informanten aus dem Gestapohauptquartier an Perwe lieferten. Es wurden Identitätskarten mit echten oder gefälschten Stempeln hergestellt. Die genannten Polizisten Hoffmann und Mattick haben manches mit falschem Namen ausgestellte Dokument mit echten Stempeln des Polizeireviers 155 versehen. Es gab auch die Möglichkeit, durch das Rollen eines hartgekochten Eis über einen Stempelabdruck diesen auf ein anderes Dokument zu übertragen.
Um eine Ausreise zu ermöglichen, waren Reisepässe erforderlich, dazu noch von der Gestapo ausgestellte Ausreisevisa. Auf dem Schwarzmarkt gab es deshalb einen regelrechten Handel mit gefälschten Dokumenten. Die Pfarrer der Victoriagemeinde bemühten sich, ihre Schützlinge mit schwedischen Pässen zu versehen. Als das reguläre Verkehrsflugzeug Berlin-Malmö (Tempelhof-Bulltofta) mit vier Besatzungsmitgliedern und sechs Passagieren an Bord am 29. November 1944 vor der schwedischen Küste ins Meer stürzte, erlosch die Hoffnung vieler Juden in Berlin auf eine Rettung, denn Pfarrer Perwe hatte in seinem Gepäck 24 solcher gefälschten schwedischen Pässe, in denen nur die Einreisevisa der Flüchtlingskommission in Stockholm fehlten. Diese wollte er sich an Ort und Stelle besorgen. Unter den sozusagen „Hinterbliebenen“ in Berlin befand sich die junge jüdische Frau Gisela Scheer mit ihrer Mutter Gertrud und ihrem Stiefvater Erich Jacob. Von den Behörden in Deutschland hatten sie die Namen Zilla, Bela und Berl erhalten, Perwe wandelte sie in Inga, Marta und Erik um. Als Nachnamen wählte er Schmidt. Ich habe die Geschichte von Gisela – Zilla – Inga, die später als Verheiratete den Nachnamen Jacobius trug, im genannten Jubiläumsbuch geschildert. Den Monat April 1945 verbrachte sie mit ihren Eltern versteckt im Keller der schwedischen Kirche und erlebte dort, wie russische Soldaten aus Wut darüber, dass sie anstatt Wodka nur Essig im Keller vorfanden, das Gebäude am 1. Mai niederbrannten.

 Der Nachfolger Perwes als Pfarrer der Victoriagemeinde, Erik Myrgren, war nicht in die Struktur der inoffiziellen geheimen Hilfstätigkeit eingeweiht worden, konnte sich aber auf die engsten Vertrauten Perwes – den Sekretär Erik Wesslén und den Hausmeister Franz Reuter – verlassen. So wurde das Netzwerk allmählich wieder aufgebaut und voll funktionsfähig. Der außerordentlich nervenstarke und mutige Wesslén hatte viele wichtige Beziehungen, auch zur SS und zur Gestapo. Er war ein Meister für Schwarzmarktgeschäfte, konnte tauschen, verkaufen, bestechen und freikaufen, wie mit Kaffee, Tabakwaren und Cognac. Im Frühjahr 1945 gelang es ihm sogar, den Gestapomann bei der Flugabfertigungskontrolle in Tempelhof so betrunken zu machen, dass ein Schwede ohne jegliche Papiere ausgeflogen werden konnte. Franz Reuter war auf die Vermittlung von Unterkünften für Juden in Berlin spezialisiert. Dank ihm konnten Hunderte von Verfolgten an sichere Anschriften vermittelt und dort für längere oder kürzere Zeit untergebracht werden. Die Kirche war ja keine „Endstation“, sondern in erster Linie eine Art Durchgangslager.
Verbindungen bestanden u.a. zur Blindenwerkstatt Otto Weidt. Unter einem Foto von Weidt von 1943 hat Myrgren notiert: „Direktor Otto Weidt. Inhaber einer Sanitätsfirma. Versteckte Juden in seinem Heim. Erzählte mir von den Massenmorden in Auschwitz-Birkenau“. - Bei seinen Besuchen in der Kirche nannte sich Weidt „Dr. Schmidt“. Er trug dann eine dicke Brille. Übrigens wagte er nicht, die Anschrift seines sog. Instituts preiszugeben. Offiziell beschäftigte er Blinde aus dem ersten Weltkrieg, in Wirklichkeit handelte es sich aber um Juden, die keineswegs als „blind“ zu bezeichnen waren. Er berichtete, was er an Schrecklichem bei einem Besuch in Birkenau im Winter 1943/44 erlebt hatte und von dem Angebot des Lagerkommendanten, „prima Seife“ zu kaufen! Experimente mit dem Einspritzen von Benzin und dem Wegoperieren von Geschlechtsteilen wurden in Birkenau praktiziert. „Dr. Schmidt“ wollte teils die Aufzeichnungen über seine Beobachtungen der schwedischen Kirche übergeben, damit sie an das Rote Kreuz in Genf/Geneve weiterbefördert wurden, teils erbat er Hilfe, um seine Firma weiterbetreiben zu können. Er bekam Lebensmittel und Waren, die für Bestechungen und Tauschgeschäfte geeignet waren.
Während der letzten Kriegsjahre ging die Hilfstätigkeit der Gemeinde über das Verstecken von Juden und das Verteilen von Lebensmitteln, Geld, Kleidern und Tauschgütern weit hinaus. Eines Tages erschien Maria Gräfin von Maltzan bei Erik Perwe, um die Möglichkeit einer Zusammenarbeit zu besprechen. Sie hatte schon mit Birger Forell Kontakt gehabt und wurde jetzt in das umfassende Netzwerk Perwes eingebunden. Es gibt Berichte über die phantastische und abenteuerliche Zusammenarbeit von Wesslén und ihr beim Begleiten von jüdischen Verfolgten an bestimmte Plätze, von wo aus sie außer Landes gebracht werden sollten. Als Flüchtlinge durch das Kanalisationssystem Berlins geführt werden sollten,  musste „Maria Müller“, wie sie sich konspirativ nannte, einmal einen verfolgenden Gestapomann ins Bein schießen, damit das Unternehmen nicht gefährdet wurde. Ein anderes Mal, am 28. August 1944, wurde nach einer logistischen Meisterleistung der beiden die sog. „Operation Schwedenmöbel“ erfolgreich durchgeführt. Dabei hielt nachts in einem Waldstück im Norden Berlins ein Zug mit Möbeln und anderem Umzugsgut schwedischer Diplomaten. Er kam von Alt Döbern, wo sich seit Ende 1943 die schwedische Legation befand,  und war nach Schweden unterwegs. Die Diplomatensiegel wurden aufgebrochen, die beiden Waggons geöffnet, die Möbel hinausgetragen und durch wartende Flüchtlinge ersetzt. Dann wurden die Wagen mit neuen, von Wesslén besorgten Siegeln plombiert und der Zug setzte die Fahrt mit seiner menschlichen Last in Richtung Freiheit fort. Bestechungen durch Wesslén hatten dies alles möglich gemacht. Auf dem Rückweg nach Berlin wurde die Gräfin von einer SS-Patrouille mit Spürhund entdeckt und verfolgt, konnte sich aber auf abenteuerliche Weise den Verfolgern entziehen.
In ihrer Wohnung mit einer Schiebewand hielt Maria von Maltzan fast immer einige Juden versteckt. Nach einer  unveröffentlichten Schilderung von Wesslén hat sie dort einmal zwei Gestapoagenten, die ihrer Tätigkeit auf die Spur gekommen waren, liquidieren lassen. Die Leichen wurden entkleidet und spät abends aus der Wohnung an einen entfernten Ort außerhalb Berlins geschafft. Die Kleider und die Ausweise fanden anschließend Verwendung bei einer weiteren Aktion. – Ich habe vor, diese bislang unbekannt gebliebene unglaubliche Geschichte bei Gelegenheit an geeigneter Stelle  auf Schwedisch mit deutscher Übersetzung zu veröffentlichen.

Mit der schwedischen Botschaft unterhielten die Pfarrer der Victoriagemeinde enge Beziehungen, aber es war beiden Seiten klar, dass die „illegale“ Hilfstätigkeit auf keinen Fall bekannt werden durfte. Mit offizieller Unterstützung war nicht zu rechnen. Alles musste im Verborgenen bleiben. Ich habe bereits erwähnt, dass Birger Forell die Kurierpost zur Verfügung gestellt wurde, dies aber ein Gefahrenmoment darstellte. Schlimmer noch war der Umstand, dass der Gestapo ab Herbst 1941 eine Spionin als Sekretärin des Legationschefs Arvid Richert zur Verfügung stand. Diese Elsa Bartel, geb. Pauli, hat offenbar Vieles verraten, nicht nur beispielsweise die geheimen Berichte des schwedischen Militärattachés, sondern auch die Kontakte und die Hilfstätigkeit der Pfarrer. Meiner Ansicht nach haben ihre Informationen dazu geführt, dass die für die polnische Untergrundbewegung tätigen sog. „Warschauer Schweden“ im Juli 1942 von der Gestapo als Spione festgenommen werden konnten. Vier von ihnen wurden ein Jahr später vom Volksgerichtshof Roland Freislers zum Tode verurteilt, jedoch auf Bitten des schwedischen Königs Gustav V. an Adolf Hitler zu Zuchthaus begnadigt. Erst Ende 1944 kamen sie in einem geheimen Austausch gegen Kugellagerlieferungen für die deutsche Wehrmacht frei. – Es lässt sich auch vermuten, dass die sich immer enger zuziehende Schlinge um Pfarrer Birger Forell auf die Spionagetätigkeit Elsa Bartels zurückzuführen ist und ihn als „persona non grata“ zur Rückkehr nach Schweden mit veranlasst hat.

Abschließend möchte ich erwähnen, dass die alte Tradition des humanitären Einsatzes und die Hilfstätigkeit der schwedischen Victoriagemeinde und namentlich ihrer Pfarrer nach dem Krieg auf vielfältige Weise weitergeführt wurden. Dies wurde besonders nach dem Mauerbau am 13. August 1961 deutlich, als Pfarrer Heribert Jansson zwei Jahre lang im Kofferraum seines mit CD-Schildern versehenen Autos viele Personen als Fluchthelfer über die Grenze von Ost- nach Westberlin schmuggelte, bis er 1963 entdeckt wurde und als „unerwünschte Person“ Einreiseverbot in die DDR und nach Ostberlin erhielt. Als negative Auswirkung, von den politischen Folgen abgesehen, verloren die Gemeindemitglieder jenseits der Grenze ihre bisherige Betreuung durch den schwedischen Pfarrer. - Das ist aber eine andere Geschichte in einer anderen Zeit.