Es ist ein Schrei nach Hilfe. Nie zuvor in seinem Leben hat er sich so hilflos gefühlt. „Ich lernte in den sechs Jahren Krieg so manche schwere Situation kennen. Es fiel mir nie so schwer eine Lösung zu finden. Mit der Waffe in der Hand fand sich immer ein Ausweg. Aber in Backamo kam ich mir so hilflos vor“, schrieb der internierte Hajo Gebauer, während er darauf wartete, an die Sowjetunion ausgeliefert zu werden.
Als Hauptmann ist er es gewohnt, Befehle zu erteilen und andere unter sich zu haben, die folgen. „Wenn ich zu einem von ihnen sage: ›Geh!‹, dann geht er, und wenn ich zu einem sage: ›Komm!‹, dann kommt er; und wenn ich zu meinem Diener sage: ›Tu das und das!‹, dann tut er es.“ Was dieser Militär Jesus erzählt, spiegelt seine Wirklichkeit wider. So ist es immer gewesen, es hat funktioniert – bis jetzt.
Wenn das Leben in die Krise gerät – das kann eine unheilbare Krankheit sein, eine Beziehung, die in die Brüche geht, oder ich werde arbeitslos; 1945 war es für Deutschland ein verlorener Krieg, … - Was dann, wenn mein Leben in die Krise gerät?
Der Hauptmann, von dem Matthäus berichtet, hat verstanden: Ich brauche Hilfe. In dieser Krise – einer derer, die ihm am nächsten stehen, ist ernsthaft erkrankt – in dieser Krise helfen Waffen nicht. Da braucht es eine andere Art von Hilfe.
„Ich habe den Eindruck, dass Menschen, die glauben, eine Krise wie diese besser meistern.“ Das sagte vor kurzem ein 25jähriger zu mir im Gespräch. Diesem eigentlich lebensfrohen jungen Mann geht es nicht gut nach bald einem Jahr Studium auf Distanz. Er ist getauft und konfirmiert, hat dann aber den Kontakt zur Kirche verloren. Jetzt fühlt es sich für ihn so an, als wäre er etwas verlustig gegangen, was ihm gerade jetzt eine Hilfe sein könnte um besser mit den Herausforderungen der Pandemie zurechtzukommen.
Von Hermann Kiesows Aufzeichnungen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wissen wir, wie groß das Verlangen vieler Internierter nach einer christlichen Gemeinschaft war. Unter den Nationalsozialisten war alle Form von Religionsausübung nahezu verboten gewesen, und wo sie stattfand diente sie der antisemitischen Propaganda. Aber in Backamo nahmen nahezu alle an den regelmäßigen Gottesdiensten teil. Zwei Minderjährige wurden noch am Tag vor der Räumung des Lagers konfirmiert und einige Soldaten wurden wieder in die Kirche aufgenommen.
„Ich bin wieder beichten und zur Kommunion gegangen und habe wieder den Weg in unsere Kirche zurückgefunden. (…) Dieser mein Entschluss geschah nicht in Verzweiflung, sondern nach reiflicher Überlegung, mehr aber noch aus einem inneren Zwang, der heftig zu mir sprach“, schrieb ein junger Soldat, Toni, an seine Frau, als er gerade von dem Auslieferungsbescheid erfahren hatte. Und er fügt hinzu: „Ich bitte dich, tue auch ein Gleiches und lass unseren Sohn taufen.“ „Sag dies auch meinen Eltern; sie werden glücklich sein darüber, dass ihr Sohn den Weg zurück zur Kirche gefunden hat.“
Den Glauben der internierten Soldaten zu stärken, ja ihn als Kraftquelle und Rettungsring wiederzuentdecken – so verstand Hermann Kiesow seinen Auftrag als Lagerpfarrer. Er engagierte sich nicht politisch. Er versuchte nicht, den Auslieferungsbeschluss der schwedischen Regierung zu beeinflussen, und er widerstand der Versuchung, in die negative Einstellung der Soldaten zur Sowjetunion einzustimmen. Mehr als alles andere war er überzeugt: Je stärker der Glaube „seiner“ Soldaten, wie er sie nannte, desto besser ihre Voraussetzung, ihrem Schicksal entgegenzugehen.
Wovon Matthäus in seinem Evangelium schreibt – von einem Hauptmann, der zu Jesus kommt und nach Hilfe schreit – ist nicht zuerst die Erzählung von einem Wunder, dass Jesus einen Schwerkranken heilt. Nein, wovon Matthäus schreibt, das ist eine Glaubenserzählung. „Ich versichere euch: in ganz Israel habe ich bei keinem einen solchen Glauben gefunden!“, ruft Jesus bei der Begegnung mit dem heidnischen Hauptmann verwundert.
„Du müsstest die jungen und alten Männer hier einmal sehen, wenn sie sich zum Gottesdienst versammeln und im Gebete ihren Trost suchen und auch finden. Es ist erschütternd und über alles erhaben zugleich“, schrieb der junge Toni über die Gottesdienste in Backamo.
Wenn mein Leben in die Krise gerät, hat der Glaube an Jesus Kraft, die Perspektive zu weiten.
Es ist ein Glaube, der keine Begrenzungen kennt. Es mag sein, dass dir das Dunkel schlechter Nachrichten stärker vorkommt als das aufgehende Licht. Nein, sagt der Glaube. Seit dem ersten Weihnachten, als Gott einer von uns wurde, scheint in der Welt das Licht, das die Dunkelheit nicht überwunden hat.
Immer noch behaupten manche, dass ihre Weise Gott anzubeten die einzig richtige sei. Nein, sagt das Evangelium. Der Gott, den Jesus verkündigte, ist der Gott aller Menschen. In diesem Glauben konnte Hermann Kiesow Seelsorger für alle Soldaten sein, auch für die, die sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht und ihrer Nazi-Vergangenheit nicht abgeschworen hatten.
Viele fühlen sich hilflos in einer Zeit, in der mehr Menschen auf der Flucht sind als nach dem Zweiten Weltkrieg und wieder Tausende in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Schweden kommen. Nein, sagt der Glaube. Du und ich, wir können uns das Schicksal von Menschen zu Herzen gehen lassen, so wie es Hermann Kiesow und unsere gesamte Gemeinde damals taten, als die Situation es erforderte. „Deutlicher als sonst haben wir, trotz allem, was uns voneinander trennt, gesehen, dass wir eine Menschheit sind, die unter demselben Himmel lebt“, sagte unsere Erzbischöfin Antje Jackelén, als das erste Corona-Jahr auf sein Ende zuging.
Der Glaube an Jesus vermag die Perspektive zu weiten, wenn mein Leben in die Krise gerät und wenn meine bisherige Strategie, mit Herausforderungen umzugehen, nicht mehr weiterhilft. „Was du geglaubt hast, soll geschehen“, höre ich Jesus zu dem fremden Soldaten sagen. Und ich will hoffen und glauben, dass sein Versprechen auch mir gilt.
Amen.